Morgenkommentar am 24. Mai 2017

“Allzeit bereit” war der Gruß der 1991 verbotenen “Pionierorganisation Wladimir Iljitsch Lenin”, der Monopolorganisation der kollektiven Jugendarbeit in der UdSSR – vor wenigen Tagen wäre die Organisation 95 Jahre alt geworden. Dabei waren die 1922 gegründeten Roten Pioniere de facto kaum mehr als kommunistisch umgekrempelte Pfadfinder. Sogar das “Allzeit bereit” hatten sie dem adligen britischen Kavallerieoffizier Robert Baden-Powell abgeschaut, dem Vordenker der seit 1908 existierenden “Scouts”. Von denen gab es in Russland 1917, im Jahr der Revolution, immerhin schon 15.000. Ohne ihre aktive Mithilfe hätten Lenins Pioniere weder Chance noch Vorbild gehabt.

Das 20. Jahrhundert war die Epoche der kollektiven Bewegungen, nicht nur in den weltanschaulich extremen, totalitären Gesellschaften. Die gemeinsame Freizeit in Uniform besaß eine egalitäre, eine emanzipatorische Komponente, das machte sie nicht nur für die roten und braunen Sozialisten, sondern auch für die – wenigen – europäischen Demokratien attraktiv. Der neue Mensch stand (und steht bei manchen immer noch) im Mittelpunkt.

Am Ende des Jahrhunderts erschien vielen Menschen die Vorstellung, den Einzelnen quasi durch Zwangskollektive emanzipieren zu wollen, als absurd. Seither gilt allein die Autonomie des Individuums als Weg zur Befreiung aus den Zwängen kollektiver Identität. Der aufgeklärte, progressive und moderne Westeuropäer definiert sich selbst, und das nach gusto. Er oder sie wacht morgens als deutscher Mann auf und schläft abends als Spanierin wieder ein. Anderntags, wenn’s beliebt, umgekehrt. Der Selbstverwirklichung sind keine Grenzen gesetzt.

Übersehen wird, dass die Verherrlichung der individuellen Autonomie so ideologisch und weltfremd ist wie das “Du bist nichts, dein Volk ist alles” der Nationalsozialisten. Während die Ewig-Fortschrittlichen nicht ablassen, die Welt zu “modernisieren”, besinnen sich viele Menschen, außerhalb und innerhalb der eigentlich westlichen Gesellschaften, auf die Bedeutung des kollektiven Zusammenhalts, auf das “Wir”. Institutionen wie Pfadfinder oder  Studentenverbindungen, oder auch nur Vereine, spüren neue Resonanz. Die Besinnung auf Heimat, Sprache und Kultur, von den “Fortschrittlichen” sogleich als Comeback des Nationalismus geschmäht, gehört dazu.

In Russland existieren inzwischen die Nachfolgeorganisationen der Pioniere und die neugegründeten Pfadfinder friedlich nebeneinander. Die dort schon fast instinktive Ablehnung des als überzogen wahrgenommenen Individualismus’ ist eines der Motive für die neue Entfremdung vom Westen. Und auch hierzulande wächst das Gefühl, der vielbeschworenen Vielfalt das Eigene, das für uns letztlich Eigentliche zu opfern.