Ost-Ausschuss-Kolumne: “Wir alle hier sind russische Produzenten”

Seit dem 13. März 2017 gibt es eine Medienpartnerschaft zwischen der Nachrichtenseite Ostexperte.de und dem Ost-Ausschuss der Deutschen Wirtschaft. Der Leiter der Kontaktstelle Mittelstand im Ost-Ausschuss, Jens Böhlmann, verfasst im zweiwöchigen Rhythmus eine Kolumne auf Ostexperte.de.

Ost-Ausschuss: „Wir alle hier sind russische Produzenten“

Von Jens Böhlmann, Kontaktstelle Mittelstand im Ost-Ausschuss


Der Ort des Geschehens war eine interessante Wahl: Ein Rehabilitationszentrum für Kosmonauten in unmittelbarer Nähe zur Sonderwirtschaftszone Stupino. Soweit, dass es einer Frischzellenkur bedarf, um die Beziehungen zwischen deutschen Investoren und den für eben diese Investitionen zuständigen russischen Beamten zu reaktivieren, ist es nicht. Aber es bestand und besteht erheblicher Gesprächsbedarf.

Das Ministerium für Industrie und Handel hatte aus diesem Grund Vertreter deutscher in Russland lokalisierter Unternehmen und die Verantwortlichen in den Ministerien – das Ministerium für wirtschaftliche Entwicklung begleitet den Lokalisierungsprozess – versammelt, um die aktuelle Gemengelage zu analysieren.

Das Spektrum reicht von der Zuerkennung des Labels „Made in Russia“ über die Qualifizierung von Zulieferern und Arbeitskräften, Problemen bei der Zollabwicklung, der Ausgestaltung der technischen Regelungen, der Forderung nach Anerkennung eines Unternehmens als lokaler Produzent als Ganzes bis zur Einbeziehung der gesamten Lebenszykluskosten in die Ausschreibungsbedingungen.

Bilaterale Wirtschaftsbeziehungen

Weitestgehend einig waren sich die Teilnehmer allein darin, dass die deutschen Unternehmen die mit Abstand aktivsten im Prozess der Lokalisierung sind, und dass dieser Fakt von entscheidender Bedeutung für die Verbesserung und weitere Ausgestaltung der bilateralen Wirtschaftsbeziehungen ist.

Der Wille aller deutschen Firmen, diesen Weg weiter zu gehen, wurde auch allenthalben geäußert. Allein, wie dieser Weg im Einzelnen aussehen soll, darüber gehen die Meinungen teils weit auseinander. Vieles hat mit der Beurteilung betriebswirtschaftlicher Notwendigkeiten, dem Verständnis von Markt und Marktwirtschaft und dem Begriff „vaterländisches Produkt“ zu tun.

Die meisten lokalisierten Firmen haben ein Produktportfolio, das einige Tausend oder Zehntausend Artikel umfasst. Angefangen beim Volumensegment bis hin zu hoch spezialisierten Einzelanfertigungen, die in aller Regel technologisch extrem anspruchsvoll sind. Genau aus diesem Grund sind solche Produzenten für die russischen Kunden von großem Interesse, weil sie für alle technischen Anforderungen Lösungen entlang der Wertschöpfungskette anbieten.

Lokalisierung der Produktion

Folgt man jedoch den aktuell geltenden Lokalisierungsanforderungen, muss für jedes einzelne dieser Produkte ein Zertifikat über seine lokale Fertigung beantragt werden, unabhängig davon, ob es Zulieferer gibt, die in der Lage sind, auch nur annähernd die geforderten Parameter zu erfüllen. Für die Beamten ist das kein Problem, für die Unternehmen ein unhaltbarer Zustand, der Zeit, Geld und Manpower beansprucht.

Die einzige wirklich praktikable Lösung wäre eine Anerkennung des gesamten Unternehmens als lokal produzierend. Denn eines ist klar: „Wir alle hier sind und verstehen uns als russische Unternehmen, die Steuern und Sozialabgaben in Russland zahlen, russische Arbeitskräfte beschäftigen und in russische Produktionsstätten investieren“, brachte es Stephan Schulte von Symrise auf den Punkt. „Die Frage nach heimischer oder ausländischer Produktion stellt sich für uns gar nicht.“

Ähnliches gilt für die Erreichung des im Gesetz geforderten Lokalisierungsgrades. Folgt man dem Standpunkt der Beamten, sind in Russland gut organisierte und qualifizierte Zulieferer in ausreichendem Maße zu finden – man müsse sie nur „finden wollen“.

Modernisierung der Industrie

Die Realität sieht leider anders aus. Sehr viele OEM investieren seit Jahr und Tag viel Know-how, Geld und Zeit in die Qualifizierung von russischen Zulieferern und in die Ausbildung von Facharbeitern. Aber selbst diese Hilfe zur Selbsthilfe reicht nicht aus, um den Bedarf auch nur annähernd zu decken. Immerhin ist das Ministerium bereit, in jedem einzelnen Fall zu prüfen, ob und wie es möglich ist, die Vorgaben zu modifizieren.

Apropos Vorgaben: In der Strategie der Regierung zur Entwicklung der Volkswirtschaft sind zwei sehr ambivalente Punkte enthalten. Einerseits soll mit Hilfe der Lokalisierung die industrielle Basis deutlich modernisiert und der Wertschöpfungsanteil vertieft werden. Was nur mit Produktionen auf höchstem technologischen Niveau möglich ist. Andererseits sollen verstärkt Arbeitsplätze in der Industrie geschaffen werden.

Die Unternehmen finden sich damit in der Situation wieder, voll- oder halbautomatische Produktionsanlagen aufzubauen, die denen im Rest der Welt in nichts nachstehen. Sie sollen im gleichen Atemzug jedoch Hunderte Industriearbeitsplätze schaffen. Zwei Komponenten, die sich ausschließen. Noch muss das Verständnis für diese Diskrepanz auf russischer Seite wachsen.

Zulieferstrukturen

Der Vorschlag des Ost-Ausschusses der Deutschen Wirtschaft nach einer möglichen Einkäufer-Initiative, wie sie in andern Teilen Osteuropas sehr erfolgreich etabliert wurde, fand die ausnahmslose Zustimmung aller Beteiligten. Gelänge dieses Vorhaben, wäre es ein Weg, die gesamte Supply Chain in Russland aufzubauen, und was vielleicht noch wichtiger ist, russische Zulieferer in die weltweiten Lieferstrukturen deutscher Unternehmen einzubauen.

Der Teufel steckt, ein russisches und ein deutsches Sprichwort beweisen gleichermaßen die Gültigkeit dieser Aussage, im Detail. Und diese Details finden sich oft in den technischen Anforderungen der Lokalisierung. Dort werden in fast allen Branchen Fertigungsschritte gefordert, die dem Handbuch des Kombinatsleiters sowjetischer Provenienz entsprungen scheinen, aber offensichtlich in manchen russischen Betrieben noch Alltag sind, jedoch nichts mit Produktion „state of the art“ zu tun haben.

Deutsche Produzenten

Müssten die Unternehmen diese Forderung tatsächlich so umsetzen, wäre das in den meisten Fällen technologisch ein deutlicher Rückschritt und schlicht nicht möglich. Diese Produkte wären auf dem Weltmarkt kaum wettbewerbsfähig und ihr Export faktisch ausgeschlossen. „Wir haben in unsere Produktion in Krasnodar im Laufe der Zeit 150 Millionen Euro investiert und die modernste Anlage Europas aufgebaut“, illustriert Ralf Bendisch, Generaldirektor Claas Vostok die Unternehmensphilosophie. Damit spricht er aus, was in nahezu allen deutschen Firmen gelebte Praxis ist: Produktion auf höchstem technologischem Niveau.

Dass dort, wo modernste Technologie zum Einsatz kommt auch erfolgreich exportiert werden kann, haben deutsche Produzenten in den letzten Jahren bewiesen.

Mittelstand in Russland

Ein letztes Beispiel soll verdeutlichen, dass Theorie und Praxis der Lokalisierung noch einiger Justierung bedürfen. Der Gesetzgeber hat je nach Branche Prozentzahlen und Daten definiert, die erreicht werden müssen, um als lokaler Produzent zu gelten. Soweit so gut: Allerdings setzt dieses Vorgehen voraus, dass in diesem Zeitraum auch der russische Mittelstand in der Lage ist, ein adäquater Partner zu sein.

Bisher läuft diese Entwicklung eher schleppend. Es fehlt an Know-how, technischer Expertise, Kapital und manchmal auch am Willen der russischen Mittelständler. „Wir haben heute einen Lokalisierungsgrad von 35 bis 40 Prozent erreicht, was angesichts der lahmenden Konjunktur und der wirtschaftlichen Probleme bei den Lieferanten schon hoch ist. 70 Prozent bis 2020 sind eigentlich nicht realistisch“, so Alexej Antipin, Generaldirektor des Uljanowsker Werkzeugmaschinen-Werkes, einer lokalen Produktion von DMG-Mori.

Die Diskussion war zweifellos schwierig und bei einigen Positionen wurden große Unterschiede in der Beurteilung des Ist-Zustandes deutlich. Dennoch war dieses Treffen ein wichtiger Schritt auf dem Weg zum gegenseitigen Verständnis. Jetzt müssen die existierenden Herausforderungen Stück für Stück gemeistert werden. Der stellvertretende Minister für Industrie und Handel, Wassilij Ozmakow brachte es so auf den Punkt: „Die deutsche Wirtschaft ist für uns bei der Entwicklung der russischen Industrie der wichtigste Partner.“ Wir haben es gern gehört.


Jens Böhlmann, Leiter Kontaktstelle Mittelstand für Russland beim Ost-Ausschuss der Deutschen Wirtschaft. Foto: zVg
Jens Böhlmann, Leiter Kontaktstelle Mittelstand
für Russland beim Ost-Ausschuss der Deutschen Wirtschaft. Foto: zVg

Die Kontaktstelle Mittelstand ist eine Initiative zur Förderung kleinerer und mittlerer Unternehmen im Ost-Ausschuss der Deutschen Wirtschaft. Sie nahm im Mai 2013 ihre Arbeit auf. Ziel der Kontaktstelle ist die Unterstützung deutscher mittelständischer Unternehmen, die einen Markteintritt oder den Ausbau ihrer Geschäftsaktivitäten in den durch den Ost-Ausschuss vertretenen Ländern, insbesondere jedoch in Russland planen.

Anfragen richten Sie bitte an: j.boehlmann@bdi.eu