Moskau verbannt Marschrutka-Kleinbusse

Wie der Markt auf das Marschrutka-Verbot in Moskau reagiert

Eigentlich ist die Marschrutka“ kaum aus dem Moskauer Stadtbild wegzudenken. Trotzdem wurden die weißen Minibusse am 15. August 2016 verboten. Die Stadtverwaltung will den Straßenverkehr reformieren. Doch die Maßnahmen stoßen auf scharfe Kritik.

Ein schmutziger Kleintransporter brummt herbei. „Hier ist noch Platz!“, wirbt ein Mann in gebrochenem Russisch. Die Sitzbänke füllen sich, dann tuckert die Maschine los. „Geben Sie das Geld nach vorne!“, klimpert eine Dame. Passagiere hieven ihre Münzen durch die Menge, die ausgestreckte Hand des Fahrers schmeißt sie ungezählt auf das Armaturenbrett. An einer Ampel schallt es von hinten: „Anhalten!“ Der Fahrer bremst, ein Mädchen hüpft aus dem Bus. Dann geht es weiter.

Für viele Moskowiten gehört die Marschrutka zum Alltag. Ausländer sehen in ihr ein Stück „russische Wildnis“. Doch mit der Romantik ist vorerst Schluss.

Der Betrieb von privaten Marschrutkas wurde zum 15. August 2016 auf fast 300 Routen (vorher 509) verboten. Eine Woche nach Inkrafttreten der Verordnung berichtet RBC von zahlreichen Schwierigkeiten: Mehr als 50 Unternehmen würden vom Markt gedrängt, tausende Mitarbeiter verlieren ihre Jobs, Passagiere kommen nicht vom Fleck – und müssen auf die altbewährte und (nun) illegale Alternative zurückgreifen.

„Marschrutkas haben Moskau gerettet“

Moskau verbannt Marschrutkas
Ein Bild aus der Vergangenheit: “Wilde” Marschrutkas voll mit Werbung. Foto: Tino Künzel

In den frühen 1990er-Jahren kämpfte der öffentliche Nahverkehr mit finanziellen Problemen. „Das Budgetdefizit erreichte ein Level, auf dem nicht mehr klar war, wie das Benzin finanziert werden soll. Die privaten Marschrutkas haben Moskau wortwörtlich vor dem Kollaps bewahrt“, erinnert sich Juri Sweschnikow, Präsident der Moskauer Transportgewerkschaft (МТС).

Die Anfangszeit verlief chaotisch. Erst 1998, nach fünf Jahren, definierten die Moskauer Behörden feste Routen für private Marschrutkas. 2006 folgte die nächste Regulierung: Die Marschrutkas wurden in ein Register eingetragen, außerdem einigten sich Anbieter und Stadtverwaltung auf befristete Dienstleistungsverträge.

Wie Marschrutkas aus dem Markt gedrängt wurden

Doch seit 2012 habe sich das Klima in der Stadtverwaltung verändert, so Sweschnikow. Es sei öfter die Rede davon gewesen, die Privatunternehmen aus dem Markt zu drängen. Schließlich erließen die Behörden im Februar 2015 eine Verordnung, um die Anzahl der Routen zu verringern.

Darüber hinaus wurden die Rechte zur Bewirtschaftung von Routen bei einer Auktion versteigert. Die Auktion wurde zwischen April und November 2015 von der staatlichen fiskalischen Einrichtung «Организатор перевозок» durchgeführt, die dem Verkehrsministerium untergeordnet ist.

Neue Pflichten für Marschrutka-Unternehmen

Im Rahmen der Auktion haben acht Unternehmen die Rechte erworben, Marschrutkas zu betreiben. Sie unterschrieben einen Fünfjahresvertrag und verpflichteten sich zur Modernisierung ihres Gewerbes.

Das sind die neuen Pflichten für private Marschrutka-Betreiber:

Die neuen blauen Marschrutka-Kleinbusse
So sehen die neuen blauen Marschrutkas aus. Foto: Simon Schütt
  • Jeder Bus muss mit einem Lesegerät für die üblichen Transportkarten in Moskau (z.B. Troika) ausgerüstet sein. Der Busfahrer darf vor Ort Einzeltickets verkaufen.
  • Alle Busse müssen in einem speziellen Blauton gefärbt sein und den Schriftzug «Московский транспорт» (deutsch: Moskauer Transport) tragen.
  • Der Name des Unternehmens darf nur auf dem rechten Flügel des Busses zu erkennen sein.
  • Alle Fahrzeuge des Betreibers dürfen nicht älter als zwei Jahre sein.
  • Alle Busse müssen die Abgasnorm „EURO 4“ erfüllen und das russische Navigationssatellitensystem GLONASS unterstützen.
  • In den Bussen müssen Klimaanlage und Videoüberwachung installiert sein.
  • Die Busse dürfen nur an offiziellen Haltestellen halten.

Die blauen Busse fahren seit Mai 2016 durch Moskau. Bisher gilt die Regelung noch nicht für die Gebiete Selenograd und Troizk. Darüber hinaus betrifft sie auch keine Marschrutkas, die zwischen Moskau und der Moskauer Oblast verkehren.

Warum die Behörden die Marschrutkas verboten haben

„Marschrutkas als altmodische und unsichere Verkehrsart gehören in die Vergangenheit“, kommentiert die Pressestelle des Moskauer Verkehrsministeriums gegenüber RBC. „Der Markt der privaten Fuhrunternehmen in Moskau war unzivilisiert.“ Die Tarife seien teurer gewesen als bei kommunalen Bussen. Außerdem hätten die Busfahrer beim Kampf um Passagiere Verkehrsregeln verletzt.

Reaktion der Transportunternehmen auf das Verbot

Insgesamt wurden 59 Transportunternehmen aus dem Markt verdrängt. Diese müssen sich nun nach Alternativen umschauen. Zum Beispiel in der Tourismusbranche oder als Transporter für Hochzeiten, Trauerfeiern und Unternehmen. Letztere können Kunden zwischen Metrostation und Ladengeschäft kostenlos hin- und herbefördern.

Doch Juri Sweschnikow von der Transportgewerkschaft bezeichnet das als „halbe Sachen“. Man könne 2.500 freigesetzte Busse nicht einfach so unterbringen. Er sehe für die privaten Marschrukta-Anbieter als Alternativen nur den „Schleuderexport“ oder die „Rückkehr zum Verleihunternehmen“. Auch blieben Passagiere mangels Alternativen nun auf der Strecke. Deshalb setzen einige Fuhrunternehmen ihr Geschäft auf den verbotenen Routen fort – trotz Strafen in Höhe von bis zu 200.000 Rubel.

Warum nur wenige Unternehmen übrigbleiben

Wie bereits erwähnt, wurden die Rechte zur Bewirtschaftung der Routen bei einer Auktion versteigert. Die Sieger der Versteigerung waren hauptsächlich Unternehmen, die auch vorher bereits große Marktanteile besaßen. Die Bereinigung des Markts hängt vor allem mit den Bedingungen der neuen Verträge zusammen, die für die meisten Unternehmen unerfüllbar waren.

Der ausschlaggebende Faktor für den Rückzug der meisten Unternehmen waren die Finanzen, schätzt Oleg Sawaljew, Chef des Transportunternehmens «Автолайн Транслайт» (Awtoline Translite). „Im Fall einer erfolgreichen Versteigerung hätten die Unternehmen den gesamten Fuhrpark modernisieren müssen. Die meisten waren weit davon entfernt, diese Unkosten zu tragen.“

Auch Juri Sweschnikow kritisiert die Verträge der Moskauer Stadtverwaltung. „Es ergab überhaupt keinen Sinn, das Angebot bei der Versteigerung zu unterbieten. Schon die Anfangssumme hätte bei den Fuhrunternehmen einen Schaden von 30 Prozent verursacht. Auch deckte sie nicht die Unkosten für Treibstoff und Versicherung.“ Zudem sei in den Verträgen laut Sweschnikow die jährliche Inflation mit 4,2 Prozent – anstatt der echten Zahl von 13 Prozent – falsch bemessen.

Fuhrunternehmen wollen vor Gericht ziehen

Im März dieses Jahres haben sich mehrere Fuhrunternehmen in Moskau zusammengeschlossen, um Klage gegen die Verordnung einzureichen. Ihrer Ansicht nach verstößt sie gegen ein föderales Verkehrsgesetz, das im Juli 2015 erlassen wurde. Demnach hätten die Marschrutka-Unternehmen mindestens bis 2020 das Recht, die Routen weiterhin zu betreiben. Das Gericht wird die Klage am 16. September überprüfen.

Auch die Moskauer Transportgewerkschaft hat eine Beschwerde bei der Staatsanwaltschaft eingereicht. Diese hat den Antrag jedoch bisher nicht geprüft.

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Bilder: Von Tino Künzel[/su_spoiler]