Kolumne: Gemischtes Doppel #5 – Medienhuren

Gemischtes Doppel #5: Medienhuren

Heute ist Montag, der 12. September 2016, willkommen beim Gemischten Doppel. Diesmal Inga Pylypchuk (UA): Was man tun muss, um in der Ukraine zur Medienhure zu werden.

Von der „Lügenpresse“ muss ich Ihnen nicht viel erzählen. Den Begriff kennt inzwischen jeder, er wurde ja sogar 2014 zum deutschen Unwort des Jahres gekürt. Als Vertreterin der „Lügenpresse“ werde ich per Email beschimpft, wenn ich Putin-kritische Texte schreibe. So erfahre ich oft überhaupt erst, dass mein Artikel bereits veröffentlicht wurde. Meist vergeht kaum eine halbe Stunde, bis das Handy brummt, Betreffzeile: „Lügenpresse!!!“

Ein deutsches Phänomen, dachte ich. Bis ich dann vor Kurzem auf ein Hashtag im ukrainischen Netz stieß: #Medienhuren (#медіабляді auf Ukrainisch oder #медиабляди auf Russisch). Was steckt bloß dahinter – und wie unterscheiden sich „Medienhuren“ von der „Lügenpresse“? Lässt sich eine Blutsverwandtschaft feststellen, oder ist die Ähnlichkeit rein zufällig?

In der Ukraine begann alles mit der Geschichte von Marija Stoljarowa, einer ehemaligen Redakteurin bei einem der größten Fernsehsender der Ukraine: Inter. Bekanntlich wird er von zwei prorussischen Oligarchen kontrolliert. Während einer Live-Sendung zum Gedenken an die Toten der Maidan-Revolution im vergangenen Winter war plötzlich der Regieton eingespielt und man konnte hören, wie Stoljarowa einen Kollegen aufforderte, „endlich diese Scheiße auszuschalten“.

Eine verräterische Panne, wie sich herausstellte. Fleißige Blogger recherchierten und stellten fest, dass Stoljarowa, Bürgerin der Russischen Föderation, noch bis vor Kurzem in russischen Propaganda-Medien gegen die Ukraine gehetzt und auf Fotos gemeinsam mit prorussischen Separatisten im Donbass in die Kamera gelächelt hatte.

Daraufhin schickte der ukrainische Geheimdienst Stoljarowa nach Russland zurück. Und sie wurde zum Inbegriff einer „Medienhure“ in der Ukraine. Damals kam wohl auch das entsprechende Hashtag auf. Als Anfang August angeblich gehackte Mails von Stoljarowa im Netz auftauchten, kommentierte sogar der Innenminister der Ukraine Arsen Avakov die Nachricht mit dem Hashtag #Medienhuren.

Wie es aber dazu kommen konnte, dass Journalisten wie Stoljarowa mitten in Kiew (und während des Krieges mit Russland!) Nachrichten basteln, darüber informierten weder der Geheimdienst noch irgendeine Ermittlungsbehörde die ukrainische Öffentlichkeit.

Für viel Aufruhr sorgte noch einmal ein Konzert, das Inter zum 25. Jahrestag der Unabhängigkeit der Ukraine im August ausstrahlte. Dessen Botschaft war eindeutig: Diese Unabhängigkeit bringt uns nichts Gutes, lasst uns lieber wieder mit den Russen zusammenkommen.

Vergangene Woche wurde dann ein Brandanschlag auf das Gebäude von „Inter“ in Kiew verübt. Offenbar waren es ukrainische Nationalisten, die sich dazu berufen fühlten, den Sender anzugreifen. Zum Glück gab es keine Toten.

Einige vermuten eine Provokation. Andere bloße Dummheit. Viele machen sich angesichts des Vorfalls Sorgen um die Pressefreiheit in der Ukraine. Ein Facebook-User brachte es schließlich auf den Punkt: „Die „Patrioten“, die das getan haben, haben der Ukraine einen deutlich größeren Schaden hinzugefügt als die Russin Stoljarowa, die bei Inter gearbeitet hat.“

Für das Hashtag #Medienhuren bedeutete die Attacke eine Sternstunde. #Medienhuren tummelten sich nun in Scharen auf Twitter. Plötzlich wurden nicht nur die Journalisten von Inter, sondern alle Journalisten, die mit ihrer Tätigkeit angeblich der Ukraine schaden, entsprechend gebrandmarkt. Und genau darin liegt das Problem.

Ein Journalist hat einen Fehler gemacht oder um Gottes Willen ein „Like“ an einer falschen Stelle gesetzt? #Medienhuren! Eine Journalistin wurde vor zwei Jahren mit einer Politikerin auf einem Foto abgebildet? #Medienhuren!

Alle Presse-Vertreter können jetzt #Medienhuren werden, genauso wie sie in Deutschland #Lügenpresse wurden. Auch unabhängige Medien und investigative Korruptionsbekämpfer werden damit abgestempelt. Dabei ist eine weitere Gemeinsamkeit nicht zu übersehen: Diejenigen, die eine journalistische Verschwörung wittern, gehören in der Ukraine wie in Deutschland meist zum rechten Lager.

Der Ex-Tagesthemen-Moderator Ulrich Wickert hat einmal die Vermutung geäußert, der Begriff „Lügenpresse“ sei vom FSB erfunden worden. Manchmal wünsche ich mir, es wäre wirklich so einfach: Russland ist an allem schuld, und basta. Aber leider, leider haben die #Medienhuren viele Gesichter. Und wer ihr Vater ist, bleibt unbekannt.

[accordion open_icon=”star-o” closed_icon=”star”] [toggle title=”Autorin: Inga Pylypchuk” open=”no”]Inga Pylypchuk, 1986 in Kiew geboren, studierte Germanistik und Komparatistik in Kiew und Berlin. 2012-2014 folgte ein Volontariat an der Axel-Springer-Akademie in Berlin. Derzeit schreibt sie unter anderem als freie Autorin für die „Welt“, „Welt am Sonntag“ und “Focus”.[/su_spoiler]
Gemischtes Doppel: Russland/Ukraine
Das Gemischte Doppel (v.l.): Ian Bateson (UA), Maxim Kireev (RU), Inga Pylypchuk (UA) und Simon Schütt (RU).

Das Gemischte Doppel gibt persönliche (Ein)-Blicke auf die Ukraine und Russland, geschrieben von Inga Pylypchuk und Ian Bateson (Ukraine) sowie Maxim Kireev und Simon Schütt (Russland).

Das Gemischte Doppel ist Teil des Internationalen Presseclubs „Stereoscope“ von n-ost. Die Kolumne erscheint künftig montags auf ostpol und hier auf Ostexperte.de. Außerdem können Sie sich hier in den „Gemischtes Doppel“-Newsletter eintragen. 

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