Gemischtes Doppel #33: Wir Kinder der Perestroika

Kolumne: Gemischtes Doppel #33 – Wir Kinder der Perestroika


Vor einer Woche war ich auf einer Ausstellungseröffnung in Berlin. Das Thema: die Post-Perestroika-Generation. Auf dem Podium saßen unter anderem zwei Journalistinnen, die vermeintlich dieser Generation angehören: eine Ukrainerin und eine Belarussin.

Am Ende der Diskussion kam eine Frage aus dem Publikum: Können sich die Teilnehmerinnen überhaupt mit dem Wort „Post-Perestroika“ assoziieren?

Eine berechtigte Frage. Denn die Entwicklungen in den beiden Ländern sind dermaßen unterschiedlich, dass man nur schwerlich einen Dachbegriff für sie findet.

Sowjetunion als gemeinsamer Nenner

Da wäre etwa das arg nach Kaltem Krieg riechende Adjektiv „osteuropäisch“, oder das verstaubte „postsowjetisch“. Nach der Perestroika haben die unabhängigen Staaten jedoch höchst verschiedene Erfahrungen gesammelt. Die Ukraine durchlief eine turbulente Zeit mit Machtwechsel und zwei Revolutionen; in Belarus verfestigte sich eine Diktatur. Wie lange noch muss die Sowjetunion als gemeinsamer Nenner für diese Länder herhalten? Noch 25 Jahre? 50? Es ist nun ein Vierteljahrhundert her, dass das große Reich auseinandergefallen ist.

Die Ukrainerin schüttelte den Kopf. Sie sei eher eine Vertreterin der „Maidan-Generation“ als der Post-Perestroika. Die Belarussin dagegen war einverstanden. Da es keinen Maidan in Belarus gegeben habe, stecke das Land noch immer im postsowjetischen Zustand.

Für mich war das aufschlussreich. Und doch kam ich in den nächsten Tagen immer wieder auf die Frage zurück: Was genau lässt mich selbst immer noch eine gewisse Nähe zu den Belarussen und auch zu den Russen empfinden? Was ist das für eine historische Erfahrung, die die Gesichtsausdrücke, die Gesten, die Wohnungseinrichtungen und Kleidungsstile in unseren Gesellschaften so ähnlich aussehen lässt? Ich sage nicht gleich, nein. Aber doch ähnlich.

Proteste in Minsk und Moskau

Die Antwort lieferten mir die Bilder vom Wochenende. Am „Tag der Freiheit“ gingen in Minsk Hunderte von Menschen auf die Straße, um gegen die Regierung zu demonstrieren. Die Einsatzkräfte stürzten mit Schlagstöcken auf die Menge ein. Etwa 700 Demonstranten wurden festgenommen.

Die Ukrainer zeigten sich in den sozialen Netzwerken solidarisch, manche spendeten für die Familien von Festgenommenen. Viele fühlten sich an die Ereignisse auf dem Kiewer Maidan vor drei Jahren erinnert. Andere konnten sich die Videos aus Minsk nicht anschauen, weil die an ihr eigenes Trauma rührten. Zu nah, zu brutal, zu ähnlich in der Ikonografie der Gewalt. Noch ist die Willkür der ukrainischen Spezialpolizei Berkut nicht vergessen, die zerschlagenen Schädel von Demonstranten, das Blut auf dem Asphalt.

Und dann die Bilder aus Russland, als es auch dort bei Demonstrationen am Sonntag zu zahlreichen Festnahmen kam. Obwohl sie eine ähnliche Sprache der Gewalt sprechen, blickten die Ukrainer zynischer auf sie herab. Eine echte Revolution werde den Russen ohnehin nicht gelingen. Wie lächerlich, so die verbreitete Meinung, dass nun Premierminister Dmitrij Medwedew ins Visier der Kritik geraten sei, während man eigentlich gegen Wladimir Putin protestieren solle.

Kampf gegen Korruption

Doch in Wirklichkeit wendet sich der aktuelle Protest in Russland gegen ein Übel, mit dem die Ukrainer sehr gut vertraut sind, und welches sie trotz zweier Revolutionen immer noch nicht ausgerottet haben. Das ist die Korruption. In den Tagen, in denen die Belarussen und Russen lautstark protestierten, unterschrieb der ukrainische Präsident Petro Poroschenko ein Gesetz, das die Tätigkeit von Antikorruptionsaktivisten einschränken kann.

Zwar überholt die Ukraine die Nachbarn Russland und Belarus im Kampf gegen den Autoritarismus und das sowjetische Erbe, womöglich stehen aber auch den Ukrainern weitere Proteste bevor. Für mich ist jeder solcher Widerstand, ob in Moskau, Minsk oder Kiew, auch ein Kampf gegen unsere gemeinsame repressive Vergangenheit. Und solange das noch so ist, sind alle drei Länder für mich ein bisschen „Post-Perestroika“.


Im Gemischten Doppel geben Inga Pylypchuk (Ukraine) und Maxim Kireev (Russland) im wöchentlichen Wechsel persönliche (Ein)-Blicke auf ihre Heimatländer.

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