Kolumne: Gemischtes Doppel #17 – Theater des Absurden

Kolumne: Gemischtes Doppel #17 – Theater des Absurden

Willkommen beim Gemischten Doppel. Diesmal von Inga Pylypchuk (UA): Baugerüst oder moderne Architektur – in Kiew erregt der Neubau eines Theaters die Gemüter. Waren wieder die Russen am Werk?

Lange waren sich die Kiewer nicht mehr so uneinig. Zum Zankapfel der Stadt wurde letzte Woche der Neubau für das “Theater im Podil”. Nach mehr als zehn Jahren Bauzeit sollte es festlich eröffnet werden. Und dabei stellte sich heraus, dass das, was die Kiewer für ein temporäres Baugerüst gehalten hatten, ihr lang versprochenes Theater war: eine massive dunkelgraue Metallkonstruktion. Und das mitten in der Altstadt, auf dem berühmten Andreassteig, dem steilen Kiewer „Montmartre“, der ansonsten von historischer Bausubstanz aus dem 18. und 19. Jahrhundert geprägt ist.

Die ersten Bilder des Theaters, die durch das Netz geisterten, sahen derart apokalyptisch aus, dass die Nutzer der sozialen Netzwerke ihre Fantasie nicht mehr zügeln wollten und die absonderlichsten Namen kreierten: Sarg, Krematorium, Müllverbrennungsanlage war da zu lesen. Manche erkannten Anklänge an die Baracken des Gulags, andere befürchteten den Umzug von Guantanamo nach Kiew. Es gab auch solche, die sich von der Konstruktion an den neuen Tschernobyl-Sarkophag erinnert fühlten, der ironischerweise in der gleichen Woche eingeweiht wurde.

Die anfängliche Empörung schlug erst in eine Diskussion um, als die ersten Kommentatoren ihre warmen Büros verließen, sich das Objekt live anschauten und ihre Bilder hochluden. Auf denen wurde sichtbar, dass das Gebäude doch eine regelrechte Fassade hat, was den gesamten Eindruck erheblich abmilderte. Und spätestens als sich Experten zu Wort meldeten, die das Theater als eine von vielen „Prüfungen im Europäisch-Sein der Ukrainer“ bezeichneten, war die ästhetische Debatte zu einer identitätspolitischen geworden.

Ihr wolltet doch echte Europäer sein? Dann nehmt dies, das hässliche Europa mitten auf eurer schönsten Straße. Viele verwiesen dabei genüsslich auf die UNESCO-Empfehlungen, die vermeintlich schuld daran waren, dass man statt eines pseudohistorischen Baus ein modernes Gebäude errichten musste.

Ihre Opponenten posteten Bilder aus den europäischen Hauptstädten, auf denen historische und moderne Bauten aus ihrer Sicht harmonieren oder erst auf den zweiten Blick schön wirken. Das Jüdische Museum in Berlin. Die Glaspyramide im Innenhof des Louvre. Mumok in Wien. Man verbreitete auch eine Aufnahme des neuen Theaters in festlicher Beleuchtung, das eigentlich gar nicht so schlecht aussah. So wird es sein, beruhigten die Optimisten.

Man musste nicht lange warten, bis irgendwann auch das Allzweckargument solcher Diskussionen ins Feld geführt wurde: Das Theater sei ein Werk russischer Propaganda. Aber wie das? Der Architekt Oleg Drozdov stammt doch aus Charkiw, Sponsor ist „Roshen“, die Schokoladenfirma von Präsident Petro Poroschenko. Der populäre Blogger Ibigdan nannte den Fall einen „Klassiker des Informationskrieges“: Er erklärte, die Propagandisten hätten die ersten Bilder des Theaters aus eindeutig unvorteilhafter Perspektive mit verdeckter Fassade gezielt verbreitet, um Aufregung und Streit zu provozieren.

Und schon waren wir wieder dort gelandet, wo wir heutzutage in der Ukraine fast immer landen: beim Krieg und bei der Suche nach der Identität. Eine Architekturdebatte verläuft schließlich nach den gleichen Mustern, nach denen die Gesellschaft funktioniert. Was das Theater selbst betrifft, versprach der Bürgermeister Vitali Klitschko der Öffentlichkeit, man werde noch Änderungen vornehmen, die man mit Experten und Aktivisten diskutieren werde, bevor das Theater tatsächlich eröffnet wird. Das ist schon mal kein schlechtes Ergebnis einer Debatte, oder?


Gemischtes Doppel: Russland/Ukraine
Das Gemischte Doppel (v.l.): Ian Bateson (UA), Maxim Kireev (RU), Inga Pylypchuk (UA) und Simon Schütt (RU).

Das Gemischte Doppel gibt persönliche (Ein)-Blicke auf die Ukraine und Russland, geschrieben von Inga Pylypchuk und Ian Bateson (Ukraine) sowie Maxim Kireev und Simon Schütt (Russland).

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